Abschied mit Wehmut und Verwunderung
So. Noch ein Artikel in einer Reihe von Tausenden, die wahrscheinlich in Blogs in den letzten Wochen geschrieben wurden und noch geschrieben werden. Nein! Ein anderer. Dass ich gehen werde, hatte ich seit dem späten Frühjahr im Hinterkopf, als das Kaufangebot von Elon Musk eintrudelte. Eine Firma, die nie wirklich Geld verdient hat, bekommt vom reichsten Mann der Welt ein Angebot über 44 Milliarden (wie viel das in Scheinen ist, darüber habe ich hier geschrieben). Das alte Management muss eigentlich heute noch feiern…
Aber das ist eine andere Geschichte und mir eigentlich egal. Nicht egal war mir die Community auf Twitter. In mehr als einem Jahrzehnt hat sich Twitter auch für mich als Informationsmedium, Teil meines persönlichen Lernnetzwerks und als Inspirationsquelle etabliert. Klar, Muten, Blocken und exzessives Filtern war schon einige Jahre eine Notwendigkeit, um eine Timeline zu haben, die interessant und von Unsinn verschont blieb, aber das war es wert.
Mit dem Verkauf allerdings haben sich einige Grundvoraussetzungen geändert, die gerade für mich als jemand, der im sich im Bildungsbereich und im Umfeld einer technisch-digitalen Gesellschaft engagiert, eine weitere Nutzung nicht mehr sinnvoll erscheinen lassen. Ich bin in den letzten Wochen einige Male gerade auch aus der Bildungs-Bubble (dem “Twitterlehrerzimmer”) gefragt worden, warum ich Twitter verlasse. Diese Frage hat mich ehrlich gesagt als Nicht-Lehrer erstaunt. Ich kann ja schlecht Leuten was von Digitalität, Medienkompetenz und gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Digitalität, von Open Source und anderem erzählen und dann bei einem Laden bleiben, der von einem egomanischen, sprunghaften Eigentümer nach Feldherren-Art geführt wird, oder?
Bis zur Kaufankündigung war Twiter noch leidlich OK (obwohl das Klima spätestens mit der Einführung von quoted retweets und der Verbreitung von Fake News deutlich schlechter wurde). Spätestens seit Oktober ist das Thema aber ein ganz anderes. Die Frage, die sich jede und jeder selbst stellen und für sich beantworten muss: willst Du als jemand, der nicht nur aus professionellem Selbstverständnis, sondern sogar vom Dienstherren beauftragt zu kritischer Medienbetrachtung bilden soll, auf einem ultra-libertären, privat betriebenen Egomanen-Spielplatz berufsbezogenene Diskussionen führen oder nicht?
Ich kann mich nicht hinstellen und sagen, wir bereiten Kinder auf die Zukunft und die Gesellschaft vor und dann bei Twitter sein als Person, die in der Bildung tätig ist. Vor allem jetzt, da Elon Musk dabei ist, die Pforten der digitalen Hölle zu öffnen und allen Ernstes Umfragen zu einer digitalen Amnestie für gesperrte Accounts durchführt. Austausch zu Bildungsthemen geht spätestens jetzt nicht mehr. Dann kann ich mir auch ne Payback-Karte holen und dann Datenschutz-Fobis geben.
Wenn auch nur ein kleiner Bruchteil all der Aussagen stimmen, die von Lehrkräften und anderen in der Bildung tätigen Personen zu OER, Medienkompetenz, 21st century skills und anderen Dingen verbreitet werden und wie wichtig das ist, dann ist spätestens jetzt der Punkt gekommen, sich eine neue elektronische Heimat für den Austausch zu suchen. Ansonsten kann ich auch Aussagen von Lehrkräften zu den obigen Themen nicht mehr ernst nehmen.
Ich kann verstehen, dass vielen ein Abschied von Twitter schwer fällt, vor allem jenen Leuten, die Tausende (oder sogar Zehntausende) von Followern haben. Diese “Großaccounts” verlieren Reichweite (und diese Angst ist bei vielen Posts zwischen den Zeilen mehr als deutlich zu lesen). Twitter ist Distribution und war einer der am billigsten zu bespielenden Marketingkanäle für die Eigenvermarktung. Noch dazu mit einer so sauber segmentierten Zielgruppe wie dem Twitter-Lehrerzimmer. Woanders, wo auch immer das sein mag, wird es entweder wesentlich teurer oder wesentlich schwerer sein.
Es ist völlig egal, was diese neue elektronische Heimat für Austausch zu Bildungsthemen werden wird, solange die Kriterien erfüllt werden, die von SuS als mündige Teilnehmer in der Digitalität gefordert werden. Wenn dazu Neues gelernt werden muss, dann ist das so. Mit jeder neue App, die durchs elektronische Dorf getrieben wird, scheint auch kaum jemand Probleme zu haben, etwas Neues zu lernen. Schließlich wird auch von SuS verlangt, offen und aufnahmefähig für neue Inhalte zu sein. Warum sollte das für Lehrkräfte anders sein? Die einzige Konstante ist der Wandel. Das Bedienen einer Applikation und die Beschäftigung mit elementaren Konzepten von Online-Netzwerken ist kein Informatikstudium.
Ich hatte auch interessante Gespräche, dass Lehrkräfte zu Recherchezwecken auf Twitter bleiben wollen, um so für den Unterricht in Politik, Sozialkunde und anderen Fächern Themen und Inhalte zu finden. Völlig in Ordnung, aber das ist IMHO etwas ganz anderes. Es gibt einen Unterschied zwischen dem Erforschen des Vulkans in seinem Krater und dem Schreiben von Arbeiten darüber bzw. dem professionellen Austausch unter Vulkanologen. Der findet nämlich nicht oben auf dem Krater statt.
Ich denke übrigens nicht, dass Twitter innerhalb der nächsten vier Wochen zusammenbrechen wird (im Sinne eines “rapid unscheduled disassembly”, um beim Jargon eines anderen Unternehmens von Herrn Musk zu bleiben). Nein, das wird ein Prozess, getreu dem Spruch “The world will end not with a bang, but a whimper”. Die Lektion, sich an einen proprietären Kanal zu hängen, der ohne Offenheit und zentral regiert davon lebt, Erregung in Klicks und Onlinezeit zu verwandeln und Daten zu sammeln, sollten eigentlich alle jetzt gelernt haben (ich nehme mich da nicht aus und gebe freimütig zu, ich hätte schon vor einigen Jahren gehen sollen. Hinterher ist man immer schlauer 😉).
Oder wie es kürzlich jemand in einem anderen Netzwerk formulierte: “if a rich guy can buy your public square, it wasn’t the public square in the first place”. Dieser public square im Sinne einer Agora war Twitter übrigens nie, es war Tausende. Viele Communitys, die nebeneinander her lebten und sich nur selten (viel zu selten?) begegneten (und dann nicht unbedingt in positiver und offener Grundhaltung). Das erforderte aktive Arbeit, konnte dann aber unheimlich lohnend sein, wenn Du von A wie Astronautinnen und B wie Bienenzüchtern bis Y wie Yankees-Fans und Z wie Zoologen alle möglichen Leute in Deiner Timeline hattest. Und das ist es, was ich Elon Musk nicht verzeihen werde. Dass er mir diese Möglichkeit genommen hat, dieses Spektrum von interessanten Leuten zu treffen, die ich mir nun mühsam wieder zusammensuchen muss. Immerhin haben erfreulich viele den Weg ins Fediverse gefunden und ich hab meine Lektion gelernt (bzw. werde diesem Prinzip treu bleiben): “own your words!” – meine Domain, mein Onlineauftritt, mein Blog und dann immer darauf verlinken, nie Content und die Kontrolle darüber ausgeben. Insofern hoffe ich, dass mein Umzug ins Fediverse auch wieder mehr als ein Jahrzehnt trägt (was in diesen Zeiten schon sehr lange wäre). Wenn nicht, dann wird eben wieder umgezogen. Alles, was nicht als flüchtige Konversation aufgefasst werden sollte, bleibt auf meinem Blog.
In diesem Sinne, danke an Euch alle für die wertvollen und interessanten Gedanken der letzten Jahre, macht’s gut und vielleicht und hoffentlich auf ein Wiedersehen im Fediverse. Addio, Twitter!