Warum der Transformationsprozess weder ein Prozess noch eine Transformation ist.

Warum der Transformationsprozess weder ein Prozess noch eine Transformation ist.

Nachdem die Beraterzunft die freie Wirtschaft durch hat, wird nun der Begriff des „digitalen Transformationsprozesses in Bildung“ als neue Sau durchs Dorf getrieben. Ich finde diesen Begriff aus mehreren Gründen unpassend.

Werden wir zu Beginn gleich mal das “digital“ los. Solange im Bildungsbereich überhaupt noch über digital oder analog gesprochen wird, haben die Beteiligten noch einen weiten Weg vor sich. Ziel für das Bildungssystem, unabhängig von Schulart, formalem oder informellem Lernen oder einer kommerziellen oder nichtkommerziellen Ausrichtung einer Bildungseinrichtung kann weder das eine noch das andere sein.

Der Begriff Transformation kommt aus dem Lateinischen (transformare) und bedeutet „Umformen“. Das impliziert eine gerichtete Entwicklung von einer Form in eine andere, also etwas, das über einen Ausgangszustand und einen (dann vorerst statischen) Endzustand verfügt. Beispiele dafür bietet die Wikipedia-Seite zum Stichwort Transformation. Im Bereich der Bildung impliziert der Begriff Transformation daher ein falsches Zielbild. Es geht nicht darum, in der Entwicklung der Organisation vom Zustand A in den Zustand B zu kommen. Denn sobald die Organisation nahezu den Zustand B erreicht hat, ist dieser mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit wieder obsolet geworden und das neue Ziel ist Zustand C, während D schon am Horizont dräut.
Dazu passt das bekannte Zitat von Eishockey-Profi Wayne Gretsky: “I skate to where the puck is going, not where it has been.“

Unsere technisch geprägte Zivilisation kennt keinen Stillstand und auch kein „Ankommen“, bei dem sich dann ausgeruht werden könnte. Ganz im Gegenteil, die Herausforderung ist die stetige Erhöhung des “𝛥v“, also die zunehmende Geschwindigkeit von Entwicklungen und Durchdringung von Bereichen durch diese Entwicklungen. Aber das ist ein anderes Thema für einen anderen Artikel.

Nun könnte die geneigte Leserin sagen: “Gut, dann ist das also ein Prozess, denn es dauert ja an…“ — aber auch das trifft es nicht, weshalb meiner Meinung nach auch der Wortbestandteil „prozess“ in Transformationsprozess ebenfalls nicht passt. Das Wort „prozess“ in diesem Fall hat nichts mit der Juristerei zu tun, sondern bezeichnet Prozesse aus dem Bereich des Prozessmanagements, also der Ablaufsteuerung. Je nachdem, welche Definition gerade verwendet wird, variieren diese, aber der kleinste gemeinsame Nenner wäre in etwa: „Ein Prozess ist eine definierte und wiederkehrende Abfolge von Aktivitäten, welche, durch Eingaben oder Ereignisse ausgelöst, zu einem spezifischen Ergebnis (dem Output) führt“.

Damit beschreibt ein Prozess etwas Wiederkehrendes, sich öfter Wiederholendes, für das sich eine Beschreibung des Ablaufs lohnt (ein Algorithmus also). Es kann also nichts Einmaliges sein, denn dann ist es kein Prozess, sondern ein Projekt. Sich laufend verändernde Bedingungen, Inputs oder Umgebungsbedingungen sind aber ebenfalls nicht möglich, denn dann kann ein definierter Prozess nicht ausgeführt werden, weil die Prozessdefinition nicht mehr auf die Umwelt passt. Die Entwicklung der technisch und digital geprägten Zivilisation ist aber kein statisches Umfeld, sondern ein bewegliches Ziel. Dazu kommt noch die Tatsache, dass (zumindest das formale staatliche) Bildungssystem mit großer zeitlicher Latenz diesen Entwicklungen folgt.

Das Einzige, was also Prozesscharakter hat oder so scheint, ist die ständig durchlaufene Schleife einer Beobachtung oder Erkenntnis von Anforderungen, die Reaktion darauf, das Analysieren des Ergebnis und eine eventuelle Neuausrichtung der Anforderungen. Die Reaktionsschleife ist in diversen Ausprägungen mehrfach „gefunden“ oder beschrieben worden, also OODA-Loop von John Boyd, als PDCA- oder Deming-Zyklus im Bereich der kontinuierlichenVerbesserung oder schlichtweg als Reaktion eines Systems auf äußere Reize.

Erfolgreiche oder flexible Systeme zeichnen sich aber gerade dadurch aus, dass die Aktionen, die diese Schleife auslöst, variabel und eben kein immergleich ablaufender Prozess sind. So kann eine Änderung der Umweltbedingungen in einer Bildungsorganisation (von offline auf überall stabiles WLAN oder von Klassenraum- auf Fachraum-Konzept) immer wieder andere sinnvolle bzw. zielführende Reaktionen hervorrufen, die bei anderen Organisationen mit einem anderen Reifegrad oder einer anderen internen Struktur völlig unterschiedliche Ergebnisse erzeugen würden.

Es kann für eine Bildungseinrichtung also gar keine “Transformation“ beispielsweise von einer analog und nicht-kollaborativen Organisation zu einer anders geartete Organisation geben, denn auch ohne die Beachtung der immer vorhandenen Unterschiede zwischen einzelnen Bildungseinrichtungen verändern sich die Anforderungen an Bildungseinrichtungen aktuell rapide, eben aufgrund der weiter oben geschilderten zeitlichen Latenz des Bildungssystems, das jetzt erst Entwicklungen aufgreift bzw. aufgreifen muss, auf die außerhalb der formalen Bildungssystems seit mehreren Jahrzehnten reagiert wird.

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