Viele Lehrerinnen und Lehrer (ab jetzt aus Gründen der Schreibfaulheit “LuL” wie sonst auch hier im Blog) nutzen Twitter, um beispielsweise lektürebegleitend Texte zu schreiben, kompakte und prägnante Texte zu formulieren oder Handlungen als Twitter-Thread neu zu erzählen. Die Begrenzung auf die maximal 280 Zeichen pro Tweet und auch die relativ kurze Aufmerksamkeitsspanne in sozialen Netzwerken, die epische Threads durch Nichtlesen straft, schaffen den Rahmen für Texte, die im englischen Sprachraum als “flash fiction” oder “Twitterature” bezeichnet werden.
Fast ebenso oft beginnt in meiner Twitterblase dann eine Diskussion über den Sinn, die Legalität oder den didaktischen Nutzen des Einsatzes von Twitter. Von “OMG, Twitter für Grundschüler” über “Unter 16 darf das niemand” bis zu “Aber die sind dann alle im Web” reicht eine einfache Suche auf Twitter. Ich gestehe, auch ich habe bei manchen dieser Einsätze Bedenken, allerdings aus völlig anderen Gründen als dem Datenschutz oder der fantasievollen Vorstellung, das Kind würde mit dem Smartphone immer nur im Flugmodus durch die Welt laufen. 😉 Ich befürchte (und habe das schon offline und online mehr als ein Mal erlebt), dass das ungefilterte Feedback auf Twitter die zarte Pflanze der Schreibfreude oder Experimentierens mit Sprache mit der gleichen Eleganz behandelt wie ein Leopard-Panzer ein auf der Strecke liegendes Fahrrad. Da ist es völlig unerheblich, dass sich der Name der sich aus der Deckung wagenden Autorin unbekannt bleibt. Sie weiß, dass der Tiefschlag in der Antwort ihrem Werk gilt. Ebenso wie der Junge, der nach Gelächter und Spott bei einem fehlgeschlagenen Auftritt nie wieder eine Bühne betreten wird.
Die Idee
Wie schreibt man daher kollaborativ Flash Fiction oder einen Twitter-Thread ohne Twitter? Eine WhatsApp-Unterhaltung im Deutschunterricht ohne WhatsApp? Teilweise steht den Jugendlichen bzw. SuS (ja, Schülerinnen und Schülern) auch kein solcher Dienst zur Verfügung. Um solche Übungen zum kreativen Schreiben in einer geschützten Umgebung und zur Not auch ohne Computer (z.B. bei einer Ferienfreizeit) durchführen zu können, wurde das folgende Konzept entwickelt.
Textlänge
Die Texte werden in einzelnen “Runden” erstellt. Jede Runde entspricht einem “Tweet” (einer Nachricht). Die maximale Anzahl von Nachrichten wird vorher vereinbart. Sinnvoll sind bei einer Maximalzahl von 280 Zeichen pro Post zwischen vier und acht Posts1. Ein Team kann weniger Posts veröffentlichen und die Geschichte dann für beendet erklären.
Teams
Die Teams können aus einem bis vier Teilnehmerinnen bestehen (bei größeren Gruppen hat sich gezeigt, dass die interne Abstimmung zu viel Zeit benötigt). Die Teams werden während der Durchführung nur mit Buchstaben oder Nummern gekennzeichnet und die Mitglieder der einzelnen Teams sollten Stillschweigen über ihre Zugehörigkeit bewahren. Dies dient zum einen der besseren Objektivität in bestimmten Settings (z.B. Klassengemeinschaften) und auch der Möglichkeit, über einen größeren Altersunterschied hin anzutreten.
Textproduktion
Die Intervalle für jede Runde hängen von der Situation ab. Im Schulunterricht ist von Stunde zu Stunde bis zu täglich oder wöchentlich alles drin. In einer Ferienfreizeit wurden die Geschichten auch schon in 3 Runden pro Tag geschrieben. Sobald das Intervall vorbei ist, liefert jede Gruppe ihren Text entweder per Papier oder per Mail/Chat bei der Koordinatorin ab.
Veröffentlichung
Der Vorteil ist, dass die Präsentation/Publikation sowohl analog ("ink on dead trees") oder digital (vom Schulserver bis zur Anzeige auf dem elektronischen Schwarzen Brett) erledigen lässt. In der analogen Version reicht eine Wand, eine Tafel oder ein großes Flipchart. Pro Team existiert eine Spalte, die mit der Teamkennung beschriftet wird. Nun werden bei jeder Runde die neuen Einträge der Teams auf einer Moderationskarte geschrieben/ausgedruckt2 und unten an der Geschichte angefügt. In der digitalen Version kann von einer WebSite bis zu einem kollaborativen Online-Dokument alles verwendet werden, bei dem es möglich ist, den Zugriff für das Publikum auf das reine Lesen zu beschränken.
Bewertung
Natürlich möchte jedes Team Feedback erhalten, wie die Geschichte im Vergleich zu den anderen Teams ankommt. Wer diesen Wettbewerbsaspekt nicht nutzen möchte, kann die Bewertung auch einfach weglassen und nur die fertigen Texte diskutieren. Interessant ist auch ein Durchgang jeweils mit und einer ohne Feedback, um zu zeigen, wie Feedback während des Schreibprozesses diesen beeinflussen kann.
Die Bewertung ist simpel: jede Person aus dem Publikum kann pro Runde so viele Punkte vergeben, wie es der Hälfte der teilnehmenden Teams entspricht (4 Teams => 2 Punkte). Dieser aktuelle Punkte-Stand wird unten am Fuß der Spalte aufgeführt. Hier ist die analoge Variante im Vorteil, da einfach mit Klebepunkten gearbeitet werden kann. In der digitalen Variante muss das Einholen der Wertung und das Eintragen durch die Koordinatorin erfolgen, da sonst Schreibzugriff auf die Datei nötig wäre und die Texte damit verändert werden könnten3.
Wann diese Wertung erfolgt, hängt von der gewählten Variante ab (s. unten).
Abschluss
Nach der vereinbarten Rundenzahl werden die entstandenen Texte diskutiert und es erfolgt eine Feedback-Runde. Danach kann, falls gewünscht, die Identität der Teams aufgedeckt werden (oder eben nicht, wenn es einen zweiten Durchgang gibt).
Varianten
Literaturpreis
Die Gesamtgeschichte der Teams wird nur einmal abschließend, es gibt eine Wertungsrunde nach der Veröffentlichung des letzten Posts des letzten Teams.
Continuous Feedback
In dieser Variante werden die Posts der einzelnen Teams während der Entstehung der Geschichte mit Punkte bewertet (jede Person aus dem Publikum kann zwei Punkte vergeben). Damit kann die Auswirkung von Feedback auf den Schreibprozess gezeigt werden.
Post-It/Kommentare
Bei dieser Variante kann das Publikum bei Bedarf entweder Klebezettel mit Kommentaren oder elektronische Kommentare in einen gesonderten Bereich/Abschnitt der einzelnen Teams eintragen. Diese Kommentare bleiben bis zum Ende der nächsten Runde erhalten und werden dann alle entfernt, so dass mit einem neuen Post ein leerer Kommentarbereich zur Verfügung steht. Hier ergeben sich hochinteressante Diskussion innerhalb der Teams!
Setting
Zu Beginn bekommen die Teams entweder einen Ort oder ein Objekt vorgegeben, das in die Geschichte eingebaut werden muss
SocialMedia
Die Frequenz der Runden wird deutlich erhöht. Für jede Runde stehen zehn Minuten zur Verfügung. Damit eignet sich diese Variante auch gut für den Einsatz im Schulunterricht oder bei einer Abendveranstaltung.
Beispiel
Die Beispieltexte sind so gewählt, dass jeder Teil des Textes tatsächlich in einen echten Tweet passen würde (weniger als 280 Zeichen). Maximal waren vier Runde möglich. Falls Sie sich fragen: nein, ich habe mit diesem Texte nicht gewonnen. Ein anderer Teilnehmer hatte eine bessere Geschichte. Aber es war ein großer Spaß!
“Die Flamme”
Die Flamme tauchte sein Gesicht in ein flackerndes Licht. Es ließ die Falten noch deutlicher hervortreten, als er grübelnd die Stirn runzelte. Sollte er es jetzt tun? Sie alle in die Dunkelheit zurück stoßen? Seine Entscheidung, ganz allein. Es würde kein großer Aufwand sein.
Aber was würden sie tun ohne das Feuer? Er hatte es mitgebracht in diese mondlose Nacht. All die Sterne am Nachthimmel konnten diesen warmen Schein und das uralte Gefühl der Sicherheit nicht ersetzen. “Ich könnte der Bewahrer der Flamme sein, sie nähren, ihr opfern”, ging es ihm durch den Kopf.
Von irgendwo kam ein Windhauch. Die Flamme flackerte leicht. Jetzt? Aber was, wenn dann niemand mehr das Feuer bringen würde? Sollte er die Verantwortung einfach abgeben? Die Umgebung wieder in Dunkelheit tauchen? “Bis die anderen es bemerken, ist die Flamme erloschen”, dachte er.
Da zerschnitt eine helle Stimme die Stille: “Mannomann Jürgen! Kannst Du das blöde Streichholz nicht einfach ausblasen wie jeder normale Mensch?” Sie nahm ihm das kleine Licht aus der Hand, pustete einmal kurz und warf das Streichholz in den Aschenbecher. Seufzend folgte er seiner Frau zurück ins Haus.
Tools
Wer sich für die digitale Variante entscheidet, findet hier eine kleine Liste mit Tools zum Thema:
- Das Ganze als “fake WhatsApp-Nachrichten” aussehen lasseN geht mit http://www.fakewhats.com
- Einen Chat animiert scripten geht mit einem meiner Tools: https://www.arminhanisch.de/2019/02/chats-simulieren/
- Eine schnelle Publishing-Plattform4 ist beispielsweise https://telegra.ph
- Eine Alterantive zum Anordnen der Texte als Karteikarten ist https://www.supernotecard.com/
Lizenz
Dieses Konzept wird der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt (public domain bzw. Creative Commons CC0)
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Die üblichen Textlängen liegen zwischen 280 Zeichen ("twitterature") über “micro fiction” mit etwa 100 Wörtern bis zu den etwa 1000 Worten, welche die Obergrenze für “flash fiction” bilden. ↩︎
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Die einheitliche Handschrift (oder eben der Ausdruck) haben sich bewährt, da die recht hohe “Handschrift-Erkennungsrate” von SuS eine Identifikation einzelner Teilnehmerinnen ermöglichen würde. ↩︎
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Wer sich den Aufwand eines externen Tools für die Wertung antun möchte (bspw. über eine Abstimmungs-App), warum nicht? Der zusätzliche Aufwand sollte aber nicht unterschätzt werden. ↩︎
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Telegraph hat übrigens eine recht gute API, wenn Dinge automatisiert erledigt werden sollen: https://telegra.ph/api ↩︎