Der Vollmond wetteifert durch das Fenster mit der gedimmten Beleuchtung des Monitors. Es ist kurz nach Mitternacht, ich sitze im stillen Arbeitszimmer vor dem Rechner, während Frau und Tochter bereits schlafen. Und ich hatte gerade eine Eingebung. Eine, die ich dank etwas erreichte, was gemeinhin als Müßiggang bezeichnet wird.
Haben wir Zeit für “Muße”?
Den Anstoss zu diesem Blogpost verdanke ich Bob Blume. Nun gibt es viele lesenswerte Blogbeiträge von @blume_bob. Dieser hier ist allerdings einer der besonders lesenswerten. Ebenso wie der Beitrag dazu von @Tartharule. Beide waren der Auslöser, meine seit einiger Zeit im Kopf kreisenden Gedanken hier aufzuschreiben.
Gibt es Müßiggang – noch dazu, wie Bob schrieb “digitalen Müßiggang” – in einer durchgetakteten Welt? Gibt es das, was im althochdeutschen “mouza”, also Möglichkeit, Gelegenheit bedeutete und das die Römer “Otium” nannten. Haben wir noch Zeit für diese Momente des “Auf das Meer starrens”, in denen die Gedanken schweifen und sich selbst zu neuen Mustern formen? Muße ist ja nicht Langeweile, nicht Aufschieben (Prokrastination), sondern ein “bewusstes Nichtausüben üblicher Tätigkeiten”.
Gibt es ein “Otium 2.0”?
Die lateinische Bedeutung “otium” zeigt sich in der Idee des Abstandnehmens vom Tagesgeschäft, dem “neg-otium” (für Geschäft). Für die Römer war die “Hektik des Tagesgeschäfts”, wie wir heute sagen würden, also nicht der Normalzustand, sondern die Abwesenheit von otium. Das Abstand nehmen, Dinge in Ruhe betrachten und neue Erkenntnisse gewinnen war ein Ziel römischen Geisteslebens. Für die Entwicklung von Kultur und Kunst ist dies unabdingbar. Mit der Reformation und der protestantischen Arbeitsethik wurde dieser Zustand lustvollen Nachdenkens und des Ideen im Kopf entstehen lassens negativ besetzt. Nicht umsonst existiert im deutschen Sprachraum der Satz “Müßiggang ist aller Laster Anfang”. Dabei ist Müßiggang nicht mit Trägheit oder Faulheit gleichzusetzen. Es wäre interessant, das Gehirn von Personen während einer Phase des Otiums zu beobachten. Man würde erkennen, dass hier alles andere als Siesta angesagt ist. Aus diesem Grund gefällt mir der ursprüngliche Begriff Otium auch wesentlich besser als das bei uns immer noch negativ besetzte Wort des Müßiggangs.
Habe ich Zeit für Otium, dann kann ich “nicht das Übliche tun” und Gedanken sich setzen, Ideen sich bilden lassen. Durchaus aus auch digital und online, wenn ich mir dabei (wie Bob beschreibt) des Sprungs zwischen den Knoten der Netzes bewusst bin. Die so verbrachte Zeit sollte auch im alten Rom schon der künstlerischen und geistigen Entwicklung dienen.
Otium sine litteris mors est et hominis vivi sepultura.
Muße ohne geistige Tätigkeit ist Tod und Lebendig-Begrabensein.
(Seneca)
Ein “Otium 2.0” – “digitaler Müßiggang” – ist ein Zustand, in dem beispielsweise explorativ und mit Neugier das Netz genutzt wird, nicht festgelegt auf ein bestimmtes Thema. So wie ein Besucher in einer fremden Stadt lasse ich mich treiben, finde hier einen interessanten Gedanken, der das Mosaik meines Wissen eergänzt. Dort ein Bild, das mich anspricht und auf eine Idee bringt, die mir ein anderes Video erläutert oder eine Website darlegt. Auf der sich wiederum ein Link findet, der mich … – ich denke, Sie wissen, was ich meine. In diesem Sinne hat Kierkegaard völlig recht:
An sich ist Müßiggang durchaus nicht eine Wurzel allen Übels, sondern im Gegenteil ein geradezu göttliches Leben, solange man sich nicht langweilt.
(Søren Kierkegaard)
Otium ist daher eng verbunden mit “Serendipity”, dem glücklichen Zufall1 der Entdeckung, nach der nicht gesucht wurde. Wie ein Spaziergang am Meer, bei dem ich schöne, interessante und ungewöhnliche Dinge entdecke und aufsammle, so kann (man verzeihe mir das schlechte Wortspiel) eine digitale Muße durchaus zur digitalen Muse werden.
Ich war in der oben beschriebenen Nacht online und habe Dinge gelernt, die ich in anderem Kontext sehr gut einsetzen konnte. Von der Suche nach der Doktorarbeit von Brian May zur Red Special über den Loudness War zu Wellen im Allgemeinen und den Drei Schwestern bis zur Simulation von Wellen und dem Wave Simulator kann ein solcher digitaler Müßiggang durchaus Erkenntnisse bringen, ohne Stress zu sein. Um es episch auszudrücken, ist Otium in digitalen Zeiten “wie ein Gott durch das Meer menschlicher Erkenntnis waten, von den Schultern der Giganten herab auf Wissen sehen und tauchend die Gärten der Neugier erkunden”.
Ach so, Sie wollen wollen wissen, was die Eingebung von ganz oben war? Der gerade genannte Ripple Tank. Beim lernenden Spiel mit drei Quellen kam die Eingebung, dass ich da gerade meinen WLAN-Router visualisierte und plötzlich verstand, warum der Empfang im Wohnzimmer so schlecht war! Router gedreht, die drei Antennen verstellt und jetzt habe ich die doppelte Geschwindigkeit. “Otium 2.0” in Aktion.
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Nach der Geschichte “The Three Princes of Serendip” von Horace Walpole. Siehe auch https://en.wikipedia.org/wiki/The_Three_Princes_of_Serendip ↩︎