Letzte Woche wachte ich irgendwann in der Nacht mit Atembeschwerden auf. Kann das schwüle Wetter gewesen sein oder ein Pollengruss unserer Flora, auf jeden Fall habe ich beim Warten auf die Wirkung des Medikaments den Fernseher eingeschaltet. Kurz nach zwei Uhr morgens, ein Kanal, für den ich moantlich eine nicht unerhebliche Summe an die GEZ überweise. Keine Gefahr von unzureichend bekleideten Pseudo-Aktricen also. Stattdessen sitzen sich zwei Moderatoren gegenüber: Herr Markus L. interviewt Herrn Jörg P., der sich in einem heldenhaften Selbstversuch für eine Woche aus dem Online-Leben zurückgezogen hat. Das Interview bzw. die Artikel dazu zu finden, sei an dieser Stelle dem Leser zur Übung überlassen, da dies nicht das eigentliche Thema des Artikels ist.
Thema dieses Posts ist auch vielmehr ein Verhalten, dass ganz gut zum Thema dieses Blogs passt. Informationsdiät bedeutet nämlich nicht nur einen ausgewogenen Umgang mit Medien und Informationen, sondern auch die Kompetenz, diese Mediennutzung, wenn nötig, kritisch zu hinterfragen. Gerade das hätte ich bei einem Moderator, der ein ganzes Team hinter sich hat, eigentlich erwartet. Aber möglicherweise leidete Herr P. zur Zeit des Interviews noch an den Nachwirkungen der Online-Abstinenz. Während des Interviews wird in einem plötzlichen Anfall von Kulturpessimismus berichtet, dass Menschen am Arbeitsplatz durchschnittlich alle elf Minuten von einer Mail oder einem Anruf abgelenkt werden.
Und dass in einer “englischen Studie mit 1000 Leuten” herausgefunden wurde, dass die abgelenkte Teilgruppe der Teilnehmer weniger produktiv war als die andere Hälfte, die Cannabis konsumieren durfte!
Dass diese Sau bereits vor drei Jahren mehrfach
durchs Dorf getrieben wurde (die beiden Links sind nur Beispiele),
zeigt nur, dass man in der Zwischenzeit hätte dazulernen können.
Bereits 2005 war die Studie nämlich schlampig und unvollständig wiedergegeben worden.
Immerhin hätte eine Mail an Dr. Glen Wilson, der hier in
einer Mailantwort an Mark Liberman bereits das Wort “Studie”
nur in Anführungszeichen zu benutzen wagt, ausgereicht.
Ich habe um halb drei Uhr morgens schlaftrunken ziemlich genau 8 Minuten gebraucht, um den Eintrag im Language Log und die Mailadresse
von Dr. Wilson
am Institue of Psychiatry des King’s College in London zu finden.
Die “Studie mit 1000 Teilnehmern” war demnach eine popelige Meinungsfrage und ein Mini-Experiment mit ganzen 8 (acht!) Stundenten,
die bereits der Guardian im April 2005
zu “80 clinical trials” hochjubelte.
Nur weil etwas jahrelang (noch dazu inkorrekt) wiedergegeben wird, muss es noch lange nicht stimmen. Ein sinnloses Aufbauschen des Themas “information overload” mit effektheischenden Zahlen bringt gar nichts, viel wichtiger wäre es gewesen, daraus ein kleines Beispiel in Medienkompetenz und Quellenanalyse zu machen. Wobei zu vermerken bleibt, dass Dr. Wilson dieses Studie mittlerweile selbst als “den Fluch meines Lebens” bezeichnet, da er den daraus resultierenden Medienhype wohl etwas unterschätzte.
Fazit: es gilt wohl nicht nur der berühmte Cartoon “im Internet weiß keiner, dass Du ein Hund bist”, sondern wohl auch “wenn es jemand im Internet findet, muss es wohl stimmen”. Offensichtlich besteht nicht nur bei unseren Kindern ein gewisser Nachholbedarf in Sachen Medienkompetenz, sondern auch bei uns …