
Zollkiesel statt Meilensteine
Digitaler Zettelkasten eines chronisch Neugierigen
Zollkiesel statt Meilensteine
Digitaler Zettelkasten eines chronisch Neugierigen
Ich hatte kürzlich wieder einen interessanten Austausch, nachdem im FediLZ (dem virtuellen Lehrer:innen-Zimmer des Fediverse) eine Lehrkraft wieder beklagte, dass die Schülerinnen und Schüler heute ja keine Ahnung mehr hätten, wie mit Verzeichnisstrukturen und Dateien umgegangen wird. Niemand weiß mehr, wie eine “gute” Ordnerstruktur angelegt wird oder warum welche Dateien wo liegen.
Dieser Post ist teilweise eine Erklärung, warum das zum allergrößten Teil für Anwenderdaten nicht mehr nötig ist, zum Teil ein kleiner Rant über mitgeschleppten Bildungsballast und die “sunken cost fallacy”. Vor allem auch, weil das Thema immer wieder hochkommt. Vor über drei Jahren habe ich hier schon mal dazu geschrieben
Das papierlose Büro kommt an dem Tag, an dem die papierlose Toilette kommt
– Bürokratie-Weisheit
Hätten wir die Blätter damals einfach irgendwo gelagert, wir hätten nichts wieder gefunden. So wurden einzelne Blätter in einem Register und mehrere Blätter in einem Ordner aufgehoben und für bestimmte Ordner gab es ein bestimmtes Regalfach – you get the idea. 😎 Das sah damals mehr oder weniger so aus wie in dem Bild unten und ja, es gab durchaus auch Blätter, die in keinem Ordner einsortiert waren.
So konnten wir Dinge einordnen, wiederfinden und man wusste im Regelfall, wo welches Dokument hingehört (meistens, darauf komme ich etwas später nochmal zurück). So eine hierarchische Ablage funktionierte seit Jahrhunderten und es war gut so. 😉
Schon immer gab es Dokumente und die Notwendigkeit, diese zu ordnen bzw. für die spätere Verwendung wiederzufinden. In Zeiten der analogen und manuellen Informationsverwaltung war das allerdings erstens keine leichte Aufgabe und zweitens zeitaufwändig.
Dann erfand die Menschheit den Computer und die Dateien. Und da wir mit dem Konzept oben sozialisiert wurden, haben wir dieses Organisationsprinzip auch in die Welt der Computer übertragen. Als Computer neu waren und auch die Entwickler, die die ersten Dateisysteme bauten, hat dieses visuelle Konzept von hierarchisch gestaffelter Informationsablage uns geholfen, Informationen in den ersten Computern zu organisieren. Es gab auch Software, die kein Konzept von “Ordnern” oder “Verzeichnissen” hatte. Ich bin noch so alt, dass ich MS-DOS 1.x installiert habe und auf einer Floppy Disk hatten 112 Dateien Platz. Dann waren die im Directory verfügbaren Einträge für Dateien erschöpft und mehr Dateien konnten nicht abgelegt werden. Organisation fand damals also nicht in Ordnern, sondern in Disketten (bzw. Boxen von Disketten) statt. 😉
Aber auch Computer mit einem Betriebs- bzw. Datensystem, das Verzeichnisstrukturen und Dateihierarchien kannte, wurden nach dem gleichen Konzept organisiert. Verständlich, denn ersten hatten die ersten Entwickler dieser Systeme auch keine anderen Erfahrungen und zweitens fehlten diese ersten Dateisystemen etwas, das heute selbstverständlich ist: eine Möglichkeit zur Ablage von Metadaten zu jeder Datei.
Fast alle Lehrkräfte haben diese “Ordner-Analogie” für die Arbeit mit Computern und die Organisation von eigenen Dateien in die digitale Welt übernommen. Das führte zu Begründungen wie “So haben wir das immer schon gemacht, sonst findet man ja nichts mehr” und anderen. Eventuelle Probleme mit diesem mentalen Modell, die durchaus auch in der analogen Papierwelt auftraten, wurden ignoriert oder mit kruden Tricks aus der Welt geschafft.
Was ich damit meine? Der Versicherungsschein für das Auto muss in den Ordner “Versicherungen”, oder? Oder doch in den Ordner “Auto”, wo alles von den Werkstattrechnungen über Versicherungen bis zu TÜV-Berichten logisch gruppiert wird? Tja, im Modell der hierarchischen Dateistrukturen gilt das Highlander-Prinzip: “es kann nur einen geben”1. Manchmal wurde dann eine Kopie angefertigt, die in den zweiten Ordner kam mit einer handschriftlichen Notiz “Original im Ordner Versicherungen” – ja, sowas gab es.
Und weil so viele Lehrkräfte so viel Zeit damit verbracht haben, den Umgang mit Verzeichnisstrukturen zu lernen und die eine einzig wahre Ordnerstruktur aufzubauen, müssen das Schülerinnen und Schüler auch lernen, denn sonst droht der Untergang des Abendlandes. Unglücklicherweise hat die Technik aber diese unangenehme Angewohnheit, sich weiterzuentwickeln damit damit einmal Gelerntes weniger wichtig bis überflüssig zu machen.
Wenn Sie heute im Internet etwas suchen, müsst Ihr nicht wissen, in welchem “Ordner” die Information in der Suchmaschine Eurer Wahl gespeichert ist. Niemand klickt sich wie früher zu Beginn der 90er durch einen Yahoo-Verzeichnisbaum. Wenn Ihr heute einen Song sucht, dann gebt Ihr Titel oder Interpret ein und die Software findet das. In welchem Ordner das liegt? Keine Ahnung, das wollen vielleicht nur Leute wissen, die ihre 30 Gigabyte im Laufe der Jahre zusammengeklaubten mp3 seit mehreren Rechnern mitschleppen.
Heute werden Informationen nicht mehr in Ordnern organisiert. Denn für Informationen und Dateien existiert etwas, dass diesen Ansatz überflüssig macht: Metadaten und Datenbanken. Die heutigen Dateisysteme gehen auch nicht mehr in die Knie, wenn in einem Ordner Hunderte oder Tausende Dateien liegen. Und es ist mir auch egal, wie meine Software für die Bilderverwaltung das Zeug auf der Festplatte organisiert, denn bei jedem Foto steht dabei, welche Kamera, welche Brennweite von welchem Objektiv und die GPS-Koordinaten der Aufnahme sind auch dabei. Metadaten regieren die Welt. Ob diese Bilder nun alle in irgendwelchen Dateien liegen oder Datensätze in einer Datenbank sind, ist egal. Niemand baut auch für Produktstammdaten einer eCommerce-Plattform manuell noch irgendwelche Verzeichnisstrukturen. Wäre bei sechsstelligen Artikelzahlen auch gar nicht mehr möglich. Um die Buggles2 zu zitieren:
Metadata killed the folder
Dazu kommt, dass die Organisation von Dateien in Verzeichnisstrukturen das Finden einer Datei nur durch den Dateinamen erlaubt. Das Versehen dieser Datei mit Metadaten (Dateiattributen) ist ein viel mächtigeres Mittel zur Organisation von Informationen. Um auf das “Auto/Versicherungs-Problem” von weiter oben zurück zu kommen: das löst sich mit der Nutzung von Dateiattributen in Luft auf. Denn wenn es ein Schlagwort “Auto” und ein Schlagwort “Versicherung” bei der Datei gibt, dann ist es völlig egal, wo die Datei liegt, ich finde sie über die Suche nach dem Schlagwort (und eventuell weiteren Attributen).
Warum also nicht sogar das Dateisystem eines Computers durch eine Datenbank ersetzen? Microsoft hat das mit seinem Projekt “WinFS” im Rahmen von Cairo versucht. Und ist gescheitert. 😉 Dennoch haben die Datenbank und die Metadaten gesiegt: ob es um die Verwaltung von Fotos geht oder um Musik oder eben um die Verwaltung von Texten oder die Versionierung von Programmcode. All diese Nutzungsszenarien wäre nur mit Verzeichnissen und einem Dateinamen nicht möglich. Stattdessen existieren Indizes für die einzelnen Attribute und irgendwo tief unter Motorhaube weiß das System auch, wo die Information auf dem Speichermedium zu finden ist.
Auch all die Lehrkräfte, die immer noch davon überzeugt sind, das manuelle Verwalten von Dateien in irgendwelchen Ordnern ist die Zukunft, nutzen bereits jetzt Dinge wie Dateieigenschaften, Metadaten in Textdateien oder in mp3-Dateien oder die Volltextsuche des Betriebssystems. Wenn ich auf meinem Mac eine Datei suche, dann öffne ich per [Cmd][Leertaste]
die Spotlightsuche und gebe ein, was ich zu der Datei weiß. Und es gibt einen Ordner “Dokumente”, da sind Tausende von Dateien drin (wenn sie nicht schon in einer Versionsverwaltung liegen).
Zu jeder Datei kann ich Schlagwörter, Notizen und andere Attribute vergeben, die zusammen mit dem Systemattributen wie Zeitstempeln für Erzeugung und letzt Änderung sowie dem Typ der Datei etc. mehr als genug Informationen bieten, um diese wiederzufinden.
Ja, es gibt Verzeichnisstrukturen, die für das Funktionieren von Rechner wichtig sind. Schließlich arbeiten viele Dateisysteme auch moderner Betriebssysteme mit Ordnerstrukturen. Nur, ist das für die informatische Grundbildung im Unterricht notwendig? Könnt Ihr als Lehrkräfte den Unterschied zwischen /usr/local/bin
, /usr/sbin
oder /opt
und /var/local/
erklären? Wer kennt die interne Ordnerstruktur seines Android-Smartphones oder weiß, in welchem Ordner die sqlite-Datenbanken von iOS liegen?
Heute ist etwas anderes viel wichtiger als Dateien in irgendwelche Ordner zu schubsen: zu wissen, wie Informationen abgelegt, verschlagwortet und kuratiert werden, welche Attribute sinnvoll sind und warum die Dateieigenschaften eines Textdokuments (egal welches XYZ-Office) sauber gepflegt sein sollten.
Ordner und Verzeichnis haben uns gezwungen, in Kategorien zu denken und vorzusortieren. Um etwas zu “speichern”, mussten wir und einen Ort überlegen, an den die Information gehörte. Änderte sich diese Einordnung später, musste die Datei verschoben werden. Unsere digitale Welt ist aber viel schneller und viel flexibler und “fließender” denn je. Die Art und Weise, wie wir Informationen konsumieren und speichern, ist schneller, chaotischer und vergänglicher geworden. heute passt nicht alles in genau einen Ordner. Manchmal gibt es keinen “richtigen” Ordner, manchmal gibt es mehrere und manchmal braucht man gar keinen. Selbst auferlegte “Regalorganisation”, nur um der Organisation willen, schränkt unsere Fähigkeit ein, im Fluss zu bleiben.
Ein interessanter Artikel, der dies aus der Perspektive der Lehre betrachtet, ist beispielsweise https://www.theverge.com/22684730/students-file-folder-directory-structure-education-gen-z
Wenn jemand geboren wurde, als 2007 das iPhone auf den Markt kam, ist diese Person heute 18 Jahre alt. Niemand muss auf dem iPhone irgendwelche Ordner verwalten, aber für den Lernerfolg ist es essenziell, Informationen und Wissen klassifizieren und verschlagworten zu können und zu wissen, wie gesucht (und vor allem gefunden) wird.
Oh, es macht Spaß, wenn zu einem Blogpost konstruktive Kommentare eintreffen. Hier mal die Kommentare der letzten beiden Tage (mal sehen, ob ich dieses Wochenende noch die eine oder anderen Antwort schaffe).
Danke für den schönen Überblick. Als ein 80er-Jahrgang bin ich in dem einen System aufgewachsen und hab es inhaliert und das neue Metadaten-Universum aufgehen sehen und tu mich mit ihm bis heute schwer. Schon hart, sich von etwas zu verabschieden, was man so verinnerlicht hat. Noch dazu, wo wir die alten Ordnerstrukturen den Kiddies im Umgang mit PCs in Informatik immer noch nahe bringen. Das ist für die in der sechsten Klasse für mich gefühlt eine der größten Herausforderungen: Kinder, legt bitte eure Datei in folgendem Ordner ab. Ich seh die Schweißperlen sofort auf deren Stirn. Grüße vom Herrn Mess
Ja, aber…
Wie so oft ist die Welt weder schwarz noch weiß. Aber das brauche ich nicht weiter ausführen, das weißt du auch selbst! (-:
Ja… nein. Wenn ich weiß, wonach ich suche, nutze ich ohnehin ein Indizierungssystem. Wenn ich nicht weiß, was ich suche, brauche ich eine Hierarchie; das kann natürlich eine hierarchische Schlagwörter-Taxonomie sein. Die SuS dazu zu bringen, halte ich für illusorisch, da das noch viel abstrakter ist. Viele verlassen sich ja jetzt schon auf die Dateivorschläge, die ihnen Windows im Explorer irgendwo anbietet - da ich aber viel mit Vorlagen arbeite, die die SuS aus schreibgeschützten Verzeichnissen ins eigene Verzeichnis kopieren, und das in der Folgestunde gleich noch einmal wiederholen, weil man die ursprüngliche Datei doch nicht findet, werden die SuS durch gleichnamige, fast (aber eben nur fast) identische Dateien oder Projektverzeichnisse verwirrt. Eine Verschlagwortung würde das noch mehr verschlechtern, wenn nicht Versionskontrolle dazu kommt.
Ist doch komisch: wenn man versucht, sich an Dinge zu erinnern, wird oft eine Hierarchie empfohlen, Sherlocks Memory Place zum Beispiel, eine Wohnung mit Räumen und Schränken, und die Dinge, an die man sich erinnern will, sind dort in der Wohnung in den Schränken und auf den Tischen. Das entspricht eher einer Ordner- als einer Schlagwortstruktur. Schlagwörter sind halt gut, wenn man das mit dem Erinnern und dem Suchbaum aufgegeben hat, sondern sich auf die HashMap verlässt.
Ob Verzeichnisse eine Zukunft haben, weiß ich nicht. Es wäre besser mit ihnen, aber das gilt für vieles.
Jaja, ich weiß auch, dass es bei Dateisystemen, die den Namen verdienen, Dinge wie Soft Links, Junctions, Symlinks, Hard Links etc. gibt. Wie viel davon könnt Ihr im Unterricht zeigen oder wie gut kennt Ihr diese Funktionen für NTFS? ↩︎
Wem das nichts sagt: https://de.wikipedia.org/wiki/Video_Killed_the_Radio_Star ↩︎
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