Serendipity – Nomen, bezeichnet die zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist. Erstmalig verwendet 1754 von Horace Walpole in einem Brief an einen Freund in Anlehnung an ein Märchen aus Persien (englischer Titel «The Three Princes of Serendip» geprägt, in dem die drei Prinzen viele dieser unerwarteten Entdeckungen machen.
Was soll das denn jetzt?
Dieser Post ist eine solche unerwartete und interessante Entdeckung. Sie erfahren etwas über alte Fotos, Bananen im Hafen, frustrierte Trucker, einen globalen Handelskatalysator und Prognosen von Beratern. Und ja, das alles hat natürlich auch etwas mit Digitalisierung und Bildung zu tun. Bleiben Sie dran, es wird interessant …
Ich bin im Internet auf ein über 100 Jahre altes Fotos aus dem New Yorker Hafen gestoßen, das die Entladung eines Bananenfrachters zeigt.
Ladung löschen war damals ein Haufen Arbeit für einen Haufen Leute. Die Handelsgüter wurden einzelnen oder zumindest in Kisten am Hafen angeliefert, auf den Docks in überdachten Stellplätzen gelagert, bis genug Ladung für ein Schiff vorhanden war und dann wurde das Stückgut verladen und seefest verzurrt.
Stückgut, das bedeutete genau das: ein Stück Handelsgut, das jeweils einzeln oder zumindest in Kisten einzeln von Schauerleuten (die Bezeichnung für Hafenarbeiter, die mit dem Stauen, Laden und Entladen von Schiffen beschäftigt sind) bearbeitet wurde. Dass bei diesem Gewimmel auch mal die eine oder andere Ladung “umgeleitet” wurde oder “ins Wasser fiel”, ist vielen historischen Abrechnungen und Ladepapieren zu entnehmen. Dazu gehörte sicher auch Mundraub: haben Sie den Bananendieb oben im Foto gefunden? Erwischt nach über 100 Jahren, aber bestimmt war das nur der Qualitätsbeauftragte des Obsthändlers …
Seit Jahrhunderten war das die normale Art und Weise, mit der Waren auf dem Seeweg transportiert wurden. Die Liegezeiten wurden damals in Tagen und teilweise Wochen gerechnet. Nach dem Löschen der Ladung musste die Besatzung warten, bis wieder genug Ladung angeliefert und erneut seefest in den Laderäumen untergebracht war. Da hatten die Seebären schon Zeit für den einen oder anderen Besuch von Kneipen in der jeweiligen Hafenstadt…
Das erinnerte mich an einen Besuch im Hamburger Hafen vor Jahren, als wir die «Cap San Diego» besuchten, die 1961 als schneller Stückgutfrachter gebaut wurde. Bis zu Beginn der 80er war die «Cap San Diego» im Einsatz und dient heute als lebendiges Museumsschiff in Hamburg.
Die Auswirkungen der langen Liegezeiten lassen sich an Bord der «Cap San Diego» heute noch besichtigen, wenn man sich auf den Hafenkarten Südamerikas die Bemerkungen zu den Hafenkneipen ansieht. 😉
Eine Idee, aus Frust geboren
Malcom McLean war sauer. Wieder einmal verlor er kostbare Zeit beim Warten in seinem Truck. Vor drei Jahren, 1934, hatte er mit zweien seiner sechs Geschwister die “McLean Trucking Company” gegründet und seitdem saß der Unternehmer auch selbst hinter dem Steuer und transportierte Baumwolle aus den Südstaaten zum Hafen nach Hoboken gegenüber von Manhattan. Frustriert stand er in einer langen Schlange aus Trucks und sah den Schauerleuten dabei zu, wie sie Stück für Stück die Ladung von den Lastwagen holten und auf den Docks stapelten oder in Schiffe verluden. “Es wäre sinnvoller, ich würde den kompletten Lastwagen aufs Schiff heben, habe er sich da das erste Mal gedacht, erzählte er in den 50er Jahren.
Nun war McLean nicht der erste, der auf die Idee kam, größere Mengen für den Transport zusammen zu fassen. Darauf kam die Menschheit schon mit den ersten Amphoren auf Schiffen der Bronzezeit. Bereits im 18. Jahrhundert gab es in England hölzerne Transportkisten und in den 20er Jahren gab es vom “Railway Clearing House” in England eine erste Norm für Eisenbahncontainer mit einer Länge von 5 oder 10 Fuss (1.5 oder 3m). Schließlich wurde 1933 das internationale Containerbüro (Bureau International des Conteneurs, BIC) gegründet, dass eine internationale Normung von Containerbehältern entwickeln sollte, um den Warenverkehr zu erleichtern.
Wo bleibt der Mehrwert?
Warum das damals nicht funktionierte? Sie ahnen es vielleicht: die Zweifel der Experten, die genau wussten, dass diese Idee nicht genug «Mehrwert» schuf, um all diese riesigen Investitionen in Kräne, Lastwagen mit gleichen Aufliegern und die andere Infrastruktur zu rechtfertigen. Stattdessen wurde lieber inkrementelle Optimierung betrieben.
Auch McLean wurde mit seiner Idee, die er im Laufe der Jahre ausarbeitet, nicht ernst genommen. Aber er glaubt an seine Idee und lässt den “modularen” Lastwagen bauen, bei dem die Nutzlast von der Antriebsmaschine und dem Auflieger getrennt werden kann. Er glaubt so fest daran, dass auch die Hürden des damaligen Kartellrechts überwindet. Als Spediteur darf er keine Schifffahrtslinie betreiben. Also verkauft er 1955 seine “McLean Trucking Company” für einen zweistelligen Millionenbetrag und kauft sich eine Reederei, die “Panatlantic Steamship Co.”. Er kauft ebenfalls ausgediente Tanker aus dem zweiten Weltkrieg und lässt sie umbauen für seine Idee vom Container: eine Metallkiste, 20 Fuss lang, 8 Fuss breit und 8 Fuss, 6 Zoll hoch (6.058 x 2.438 x 2.591mm in metrischen Maßen). Jeder in der Logistikbranche kennt diese Maße heute auswendig …
Premiere unter skeptischer Beobachtung
Am 25. April 1956 war es dann soweit. “I don’t have ships, I have sea-going trucks” ist ein bekannter Ausspruch von Malcom McLean. 58 dieser 20Fuss-Container (TEU, Twenty-feet Equivalent Unit) wurden von Kränen, die McLean ebenfalls hatte bauen lassen, von den Lastwagen auf die Ladeplattform der «Ideal X», dem ersten Containerschiff der Welt, gehoben. Nach wenigen Stunden war das Schauspiel vorbei, genau beobachtet nicht nur von McLean, sondern auch von Hafenarbeitern. Das Schiff legte ab und dampfte Richtung Zielhafen Houston, Texas. Einige Tage später rieb sich Malcom McLean höchst erfreut die Hände: eine Schlange von leeren Sattelschleppern wartete am Hafen, die Kräne hievten innerhalb weniger Stunden die 58 Container auf diese “Nicht-McLean Trucks”. Alles passte, die Trucks transportierten die Waren ab und statt 15000$ kostete der Aufenthalt im Hafen durch die gesparte Zeit und die nicht benötigten Hafenarbeiter nur etwa 1600$, etwas mehr als ein Zehntel!
Hockey-Stick
Im Start-up Bereich gibt es den Begriff des “Hockey Stick Effekts”. Diese Entwicklung machte auch McLean mit seinen Containern durch. Der Rest der Welt war skeptisch ("das mit dem Internet, das geht schon wieder weg”, kommt einem da in den Sinn). Auch wenn bereits ein Jahr später die 58 Plätze für Container nicht mehr ausreichten und die «Gateway City» bereits 228 Container transportieren konnte, die Liegezeiten rasant fielen, es dauerte eine Zeit. Um seiner Überzeugung des intermodalen Transports (also übergreifend, Land und See) zu verdeutlichen, benannte McLean seine Reederei schon 1960 in «Sea-Land» um. Und schon Mitte der 60er Jahr waren in den Vereinigten Staaten über 170 Containerfrachter unterwegs.
Häfen begannen, die überdachten oder mit Hallen ausgebauten Docks abzureissen, um Platz für die Container zu schaffen. Innerhalb der versiegelten Metallboxen war die Ware geschützt und auch der “Schwund” nahm rasant ab, denn der Zugang zur Handelsware war jetzt für die Leute im Hafen versperrt. Bald gab es neben dem TEU (dem 20Fuss-Container, der Twenty-foot Equivalent Unit) auch den doppelt so langen 40Fuss-Container, um die Nachfragen zu befriedigen. Jetzt kam der steile Teil der Hockey-Kurve…
Erst verschlafen und dann Panik
Im Mai 1966 bereits legt mit der «Fairland» das erste Containerschiff in Deutschland an, mit einer für die heutige Zeit lächerlichen Kapazität von 110 TEU.
Jetzt, nachdem sie die Entwicklung jahrelang belächelt hatten, wachten die restlichen Reedereien, auch die außerhalb der USA, endlich auf. Und es geschah das, was auch heute bei jeder disruptiven Innovation zu beobachten ist: die Berater fallen ein. Die Zeitungen bereiten den Untergang des Abendlandes vor. Allgemeine Panik in der jeweiligen Branche …
Der SPIEGEL brachte 1967 einen Artikel, in dem es hieß: “Europas Reeder haben Angst vor einer Blechkiste. […] «Das Ding», so klagt Richard Bertram, Vorstandsmitglied des Norddeutschen Lloyd in Bremen, «stellt uns alle vor große Probleme.» Das Ding aus Blech ist ein international genormter Großbehälter (Fachjargon: Container) für den Land- und Seetransport”.
Eine Prognose von McKinsey & Co. sagte voraus, dass bis 1970
- von den 20 etablierten Nordatlantik-Reedereien Europas mind. 16 bankrott sind
- von 10 europäischen Welthäfen 9 als kleiner Provinz-Umschlagplätze enden
- lediglich ein Hafen in Europa (vermutlich Rotterdam), das Container-Geschäft machen wird
- Hamburg, Bremen, Amsterdam und London dürfen allenfalls hoffen, Zubringerdienste zu leisten
Carsten Müller von der Hamburger Poseidon-Reederei prophezeite damals: “Es wird schlimmer kommen als vor hundert Jahren, als das Dampfboot die Segelschiffe ablöste.”
Erinnert Sie das an etwas? Mich daran, dass der folgende Spruch seine Berechtigung hat:
Prognosen sind schwierig, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen
– (je nach Quelle Mark Twain, Winston Churchill, Kurt Tucholsky)
Container-Katalyse
In Wirklichkeit war der Container der größte Katalysator für den globalen Handel, den es gab. Lediglich die Amphore dürfte vor einigen Tausend Jahren ähnliche Auswirkungen auf den Seehandel gehabt haben. Wie wir alle wissen (auch McKinsey 😉), ist Hamburg kein Provinzumschlagplatz für ein paar armselige Warenkisten geworden.
Über 98% des weltweiten Warenverkehrs werden heute “containerisiert” transportiert. Die folgende Tabelle zeigt die Entwicklung der Containerquote für den Hamburger Hafen:
Jahr | Containerquote |
---|---|
1967 | 0,9% |
1977 | 26,0% |
1990 | 68,6% |
2000 | 93,1% |
2017 | 98,3% |
Insgesamt wurden letztes Jahr in Hamburg 89.4 Millionen Tonnen Containergüter umgeschlagen. Stückgut? Verschwindende 1.5 Millionen Tonnen …
Damit ist Hamburg allerdings nur die Nummer 19 auf der Liste der 20 größten Containerhäfen. Die 8.7 Millionen TEU stellt Shanghai locker in den Schatten: die Nummer 1 der Liste schlägt pro Jahr über 42 Millionen TEU um!
Das zeigte sich dann auch bei den europäischen Reedern. Diese schlossen sich zusammen, erkannten die Gefahr und stellten ebenso wie die Häfen völlig auf dieses noch bis vor kurzem als “Ami-Spinnerei” belächelte Konzept um. Als das Geschäft so richtig startete, hatten die Europäer die neuesten und größten Containerfrachter und waren im Vorteil. Mehr und mehr fielen die amerikanischen Reedereien und auch Sea-Land in eine Nebenrolle zurück. 1999 wurde «Sea-Land» von «Maersk» aufgekauft und ist heute noch eine existierende Konzern-Tochter.
Malcom McLean starb im Mai 2001 mit 87 Jahren und ist einer der außerhalb seiner Branche unbekannten Heroen des Welthandels.
Sie wollen zum Abschluss wissen, was es kostet, einen 20Fuss-Container (TEU) von China nach Deutschland zu verschiffen? Stand Mitte 2019 etwa 800-900€, aus den USA für ungefähr die Hälfte. Wenn Sie sich vorstellen, dass in einen TEU etwa 20000 Armbanduhren gehen, dann sind die Transportkosten von China nach Hamburg mit ca. 5ct pro Uhr einer der kleineren Posten beim Einkauf. Mittlerweile sind die Ladekapazitäten auch etwas größer als zu Malcom McLeans aktiven Zeiten: die größten Containerfrachter tragen über 20.000 TEU!